Im Vorhof zur Hölle, ein Treffen besonderer Art
Die Wege des Schicksals sind unergründlich, von so vielen Zufällen abhängig. Neulich passierte Folgendes:
Mein Freund Dante machte mir den Vorschlag, ihn auf den Weg in die Unterwelt zu begleiten – den Begriff „Hölle“ vermied er geflissentlich. Er schmeichelte mir, er fände sich in dieser neuen Welt nicht mehr zurecht und er sähe in mir einen kompetenten Kenner der Szene.
Wir wählten den Seeweg und er gab mir zu verstehen, dass wir auf Grund der mannigfachen Turbulenzen und der allgemeinen Aufbruchstimmung zunächst die Transitzone Singapur ansteuern müssten, um die Zugangsberechtigung und Aufenthaltsgenehmigung für die Hölle zu erwerben. Die Prüfungen seien heute wesentlich strenger als in seiner Unterweltjugend. Ein Vorteil sei allerdings, dass wir keine Abschiebung ins Fegefeuer befürchten müssten, dies sei von einem Vatikanbürokraten abgeschafft worden, um die Überprüfungsmodalitäten zu vereinfachen und die Wartezeiten zu verkürzen.
Wir platzierten uns in Singapur auf die harten Stühle der himmelhohen Wartehalle. Uns gegenüber sahen und hörten wir ein Liebespaar in altmodisch anmutender Kleidung, das sich abwechselnd beschimpfte, sich dann wieder in die Arme fiel, sich heftig umarmte und leidenschaftlich küsste. Das Weitere wollten sie sich wohl für die Hölle aufheben. Ich sagte zu Dante, dass sei doch ein unwürdiges Verhalten, schließlich bäten wir doch alle um Einlass in die Hölle, um Unterschlupf bei Vater Luzifer zu finden. Dante bestätigte das und flüsterte mir ins Ohr, die Beiden seien ein Liebespaar, das schon vor über 150 Jahren um Einlass ins Paradies gebeten hätte, da sie doch im Unterschied zu ihren Zeitgenossen schon auf Erden die Hölle durchgemacht, die Leidenschaften und die alles zerstörende Liebe genossen hätten, und nun endlich Ruhe und Beschaulichkeit suchten. Petrus war begeistert, er meinte, so etwas sei ihm seit Jahrhunderten nicht mehr untergekommen, denn alle anderen sich heiß begehrenden Liebespaare wollten unbedingt ihr lasterhaftes Sein in der Hölle fortsetzen oder überhaupt erst dort zu beginnen, schließlich hatten sie sich ihre Lustgefühle für die Ewigkeit aufgehoben. Petrus öffnete die Himmelstür und gab dem Engelschor die Anweisung, ein besonders sentimentales Liebeslied zu trällern. Das Paar war gerührt und auch der Herr war ganz aus dem Häuschen.
Doch in den folgenden gut 150 Jahren liebten und stritten sich die Beiden so laut und leidenschaftlich, dass dies den ruhe-bedürftigen Wellness-erwählten im Paradies mächtig auf den Sack ging und sie lautstark um bekömmliche Ruhe baten. Vom Herren verlangten sie die sofortige Ausweisung der Störenfriede. So beschloss der oberste Himmelsrat die prompte Überführung in Luzifers Lustgefilde. Nun befinden sich die Beiden genau wie wir im Auffanglager der Transitzone Singapur. Zur Zeit läuft das Eignungsverfahren. Da Luzifer ein begeisterter Hardrocker ist, stehen ihre Chancen nicht schlecht. Ich freute mich über diese Aussagen des Höllenkenners, hatte ich doch schon lange gehofft, dass dort unten endlich die Post abginge.
„Interessant, mein lieber Dante,“ hob ich an „ da du ja alles schon weißt, kannst du mir doch auch sicherlich sagen, wie die Beiden heißen. „Was, das weißt du nicht?“ antwortete bestürzt Dante, „Ich dachte du bist Literaturwissenschaftler. Bei wem hast du bloß dein Examen gemacht?“
Ich nahm die Ausfälle meines Freundes nicht so ernst und schwieg. Der war gerade in einem mächtigen Redefluss, den er ohnehin nicht unterbrechen wollte: „Es sind natürlich George Sand, eigentlich Aurora Dupin und ihr verrückter Geliebter Alfred de Musset. Damals, nach ihrem jeweiligen Ableben, hatten beide unabhängig von einander den Wunsch geäußert, endlich in der Ewigkeit wieder zusammenleben zu dürfen, sie würden dafür sogar das Paradies in Kauf nehmen.“ – „ Mensch, das kann ja interessant werden in der Hölle,“ unterbrach ich ihn, „ allerdings, meine Französisch-Kenntnisse sind ziemlich miserabel. Französisch war in der Schule immer mein schlechteste Fach.“ – „Mach dir keine Sorgen,“ tröstete mich Dante, „zum Französischlernen hast du in der Hölle genügend Zeit und in zwei Jahrzehnten kannst du dich perfekt mit Alfred und George unterhalten.“ – „Na, dann ist ja alles bestens, und ich hoffe nur noch, dass ich den Prüfungsanforderungen in der Transit-Zone gerecht werde.“
Dante lachte vielsagend und rückte sich den Lorbeerkranz auf seiner roten Wollmütze zurecht. Ja, mein Freund hatte nicht nur ein energisches Kinn und eine kräftige Nase, er war auch ein eitler Kerl. Das war die Folge seines 56jährigen Aufenthaltes auf florentinischer Erde.
Wolfgang Schwarz, 16.2.2016