Was uns Felicitas noch so Gutes angetan hat
Nachdenkliche Betrachtungen über Hoppes Filetstück „Hoppe“
Seit 55 Jahren hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Felicitas in Hameln geboren wurde und dort als Ratte unbeachtete Erfolge gefeiert hat.
In „Hoppe“ wird diese Tatsache im Großen und Ganzen nicht bestritten, aber auch betont, dass die Eltern aus Schlesien stammen und die drängende Tochter schon unter dem Herzen der streng katholischen Mutter getragen wurde, noch ehe der göttliche Segen die Heirat besiegelt hatte. Problematisch erscheint ferner, dass die Klavier spielende Mutter auch noch polnischer Herkunft gewesen ist. Bei den damaligen deutsch-polnischen Beziehungen erscheint es daher nicht verwunderlich, dass dann in Hameln, eingebettet von den nichtigen Bergen des Weserberglandes, die Ehe scheitern musste.
Der Vater, Erbauer des ersten Kaspertheaters und erfolgloser „Patentagent“, flüchtete aus den Ehebanden und entführte so ganz nebenbei die 5jährige Tochter
Felicitas nach Kanada. So berichtet uns glaubhaft die Erzählerin des nieder-sächsischen Meisterwerk „Hoppe“.
Die Hoppes lassen sich in dem weiten Land in Brantford nieder und schließen wie von ungefähr enge Freundschaftsbande mit den Gretzkys. Zufällig ist deren Sohn der später berühmteste Eishockeyspieler der Welt „Wayne Gretzky“, genau der, für den die pubertäre Felicitas so schwärmte.
„Wie sieht es also mit der Realität aus, Frau Hoppe?“
So viel sei verraten: Felicitas definiert Realität als uneingelöstes Versprechen und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung lautet, „dass sie die Unterscheidung von drinnen und draußen weder kennt noch sucht“(S. 26). Das Drinnen ist eben die aufkeimende Kinderliebe zu dem künftigen Eishockeystar.
Aber auch Felicitas kann sich sehen lassen: Mit 6 Jahren spielt sie perfekt Blockflöte.
Das hat sie ihrer aus Toronto stammenden Musiklehrerin Lucy Bell zu verdanken. Diese war, was Wunder, selbst Schülerin von Flora Gould, der Mutter von Glenn Gould, die erfolgreich auch ihren Sohn das Klavierspielen beibrachte. In Michael Stegemanns „Glenn Gould-Biographie“ gibt es allerdings keinen Hinweis auf Lucy Bell. Diese Unterlassungssünde hätte Felicitas Hoppe sicherlich kritisiert. Allerdings war wenige Jahre später auch Glenn Gould ihr großer Schwarm, obwohl der Altersunterschied ja beträchtlich war. Lucy musste als Musiklehrerin kleine Brötchen backen, immerhin reichte es noch zur Geliebten von Felicitas Vater Karl.
Waynes Mutter wurde aber die Lieblingsstiefmutter der heranwachsenden Feli.
In besonders guter Erinnerung blieb sie ihr, da sie der 13jährigen das Rauchen beigebracht hatte. In dieser Zeit schrieb sie auch einen viel unbeachteten Aufsatz: „Wayne meets Glenn“. Die innere Beziehung zu Glenn war aber nicht nur wegen des Altersunterschiedes problematisch, weil dieser ein engagierter Tierfreund war und Feli dagegen eine begeisterte Anglerin und fanatische Fleischvertilgerin.
1974 muss die 14jährige ihren Liebsten Wayne verlassen, da ihr Vater, der auch in Kanada erfolglose Patentagent, nach Australien übersiedelt. Wegen seiner Flugangst (der Vater hatte früher einen Flugzeugabsturz überlebt) buchte Vater Karl eine Übersiedlung per Schiff und so konnte Felicitas viel über sich und die Welt nachdenken. D.h. sie konnte einen Vorsprung von 30 Jahren hervorzaubern und sich mit der Kritik an ihrem Lebenswerk auseinandersetzen. Wie auch unsere Literaturkreisteilnehmer beklagen auch viele Kritiker das Wirrwarr der Orte, Zeiten und Gedanken im Werk der Hamelner Literaturikone. Da ihre Geschichten meist in den Zusammenhang von Reiseaktivitäten stehen, betont sie, dass es an ihrer tatsächlichen Weltreise keinen Zweifel geben könne. Neben ferne Länder interessierte sich schon das Kind Feli für Geschichte und las mit großer Begeisterung historische Romane. Auch mit dem Phänomen der Linkshändigkeit hat sie sich schon früh auseinandergesetzt, zudem interessierten sie Kronen und Kostüme und hatte immer eine besondere „Neigung zu Helden, Ritter und Königen“(S.119).
Am 22.12.1974, also 2 Tage vor Weihnachten, mietet sich Vater Patentagent mit Tochter Wirrwarr in einer Pension in Adelaide ein. Wegen ihrer „Landangst“ wagt Feli zunächst keinen Schritt aus der Pension. Mit der Pensionswirtin, auch eine begabte, phantasievolle Geschichtenerzählerin, schließt die entführte Hamelnerin eine enge Freundschaft. Die Wirtin, auch „Schöne Helena“ genannt, stellt der hochbegabten Felicitas ihr Klavier zur Verfügung. Unter falschem Namen taucht kurzfristig Felis Bruder auf, der seine kleine, entführte Schwester in Adelaide sucht. Vater und Tochter tauchen ab und vom Fährten suchendem Bruder ist dann keine Rede mehr. Dieser Erzählstrang wird also einfach gekappt. Hoppe wagt sich außer Haus und so begegnet sie einen langsam erblindenden, gleichaltrigen Jungen, dem sie sogleich ihrem ersten Kuss verdankt. Joey, so sein Name, und seine Eltern sind emsige Katholiken und nebenher auch noch begabte Musiker. Joeys Mutter Virginia erteilt Felicitas Klavierunterricht, erkennt aber bald, dass ihre Fähigkeiten, um der hochbegabten Schülerin gerecht zu werden, nicht ausreichen. Zudem empfindet sie eine heftige Eifersucht gegenüber Felicitas, da sie plötzlich im Mittelpunkt des Lebens ihres Sohnes steht. So übernimmt Joeys Vater, ein Arzt und Organist, den Klavierunterricht. Wie sooft in solchen Fällen, verliebt sich der Lehrer in seine geniale Schülerin. Er unterdrückt seine Gefühle, führt aber ein entlarvendes Tagebuch, in dem er auch die junge Überfliegerin scharfsichtig charakterisiert. Bei allem Bewundernswerten fehlt der 19Jährigen doch die Fähigkeit, das „Eigentliche vom Wirklichen, die Wahrheit vom Vergnügen“ zu trennen (S.183). Sie will immer Alles, es fehlt ihr einfach die Entspannung. Da sie sich nicht begrenzen kann, sieht er für sie bei aller Genialität auch nicht die Chance, dass sie einmal eine große Pianistin wird (S.185).
Hoffen wir also, dass dies nicht auch für die Dichterin gilt! –
Angeblich, jedenfalls nach Aussage der Erzählerin, bleibt Felicitas in Adelaide, obwohl sich der Vater bzw. der Entführer, scheinbar in Luft aufgelöst hat. Auch Joey verschwindet aus dem Blickfeld. Immerhin studiert Felicitas an der Musikschule in Adelaide. Dort muss sie sich allerdings mit ihrem großen Konkurrenten Mel(ville), einem Komponisten moderner Opern, abärgern. Aber nicht das ständige Tragen eines Rucksackes verübelt er ihr, sondern dass Feli sich der Blasmusik verschrieben hat.
„Frauen mochte er, er zog sie männlichen Bewerbern vor, vor allem, wenn sie talentlos waren“(S.205). An Talentlosigkeit mangelt es Felicitas aber! Mel ist aber von ihrer Schreibkunst beeindruckt, die sie bei unzähligen Libretti unter Beweis stellte.
In diesem Kapitel gibt sich die Erzählerin wieder erzähltechnisch schizophren: Sie erzählt von Feli in der Sie-Form, meint aber im Erzählzusammenhang sich selbst, und spricht als „Ich“-Erzählerin. Sie hat eine so enge Beziehung zur Hauptfigur, dass sie innerlich identisch sind. Das lässt sich wie folgt verdeutlichen: Sie spricht von ihren Eltern und diese sind gleichzeitig die Eltern Felicitas. Sie entschuldigt sich aber für das Verwirrspiel: Sie „liebt es, Spuren zu legen, um sie gleich wieder zu verwischen“(S.221). Nebenbei spricht sie von drei grundsätzlichen Schriftstellertypen: die Psychologen, die Charakterdarsteller, die Künstler (S.226).
Sie ist folglich die Künstlerin, deshalb ihr lockerer Umgang mit Form und Realität.
Da sich in der Nähe von Adelaide mehrere deutsche Siedlungen aus dem 19.Jahrhundert befinden, lässt sich Hoppe es natürlich nicht entgehen, dort in Hahndorf aufs Schützenfest zu gehen, schließlich ist sie auch eine begeisterte Sportschützin und Blasmusik-Anhängerin. Gleich danach entschwindet sie nach Amerika. Kaum angekommen lässt sie mal wieder die Katze aus dem Sack: Sie habe in den Achtziger Jahren fast ausschließlich in den USA gelebt. - Also doch nichts mit dem Musikstudium in Adelaide! - Vor dem Amerika-Abenteuer noch einige Geständnisse: Sie ist eine Spielerin, eine Traumtänzerin mit einer „starken Neigung zur Selbstverleugnung“ (S.257), die sich ständig „außerhalb aller Ordnungen“ bewegt und das Leben nach Belieben umwandelt. Ferner betrachtet sie sich als ihre beste und schärfste Kritikerin. „Niemand könne so gute Verrisse über Hoppe schreiben wie Hoppe“ (S. 259). Das Leiden hält sich aber in Grenzen. Sie verweist auf einen Ausspruch aus ihrer ersten Erzählsammlung: „Ich bin nicht glücklich und habe nicht die Absicht, es zu werden.“ (Picknick der Friseure, Reinbek 1996, S.75).
Trotz ihres Faibles für das Unglück, kann sie aber auch sehr enthusiastisch sein. So bejubelt sie am 22.12.1984 ( also genau 10 Jahre nach ihrer angeblichen Ankunft in Adelaide) den nächtlichen Anblick des Lichter überfluteten Death Valley: „die schönste und prächtigste Stadt der Welt, etwas Schöneres habe ich nie gesehen“ (S.266).
Im letzten Kapitel (Hochzeit, mit langem oder kurzen „o“, sei dahingestellt) zeigt die Autorin eindrucksvoll, dass sie, entgegen landläufiger Überzeugung, auch Autobiographien schreiben kann.
Sie berichtet von der problematischen Ehe ihrer Eltern, die Mutter musikalisch und streng katholisch, heiß geliebt von der kleinen Tochter, der Vater nüchtern, da fällt die Entscheidung für den weiblichen Elternteil natürlich leicht. „Es gäbe weder einen Schlüssel zur Welt noch einen Schlüssel zum Leben“(S.282), da hilft das durch die Mutter vermittelte Aufgehobensein in die kirchliche Sinnlichkeit und Selbstgewissheit.
Auf den letzten 50 Seiten legt sich Hoppe mächtig ins Zeug und widerlegt die Besserwisser. Statt allzu weit in die Ferne zu schweifen – sprich Australien – begnügt sich Felicitas mit dem Dasein einer Studentin und Deutschlehrerin in Eugene/Oregon, also im Westen der USA. Ihrer Lieblingsschülerin unterstellt sie, dass diese in sie verliebt gewesen sei (Wunschvorstellung?). Vielleicht kein Wunder, musste sie doch erfahren, dass ihr Jugendschwarm Wayne Gretzky zu dieser Zeit eine Schauspielerin geheiratet hat. Aus enttäuschter Liebe kommt Frau vielleicht auf die Frau zurück! Aus Frust schreibt sie Kürzest-Geschichten (Picknick der Friseure), z.T. leicht frivol und ironisch: „Kein Zweifel, mein Geliebter will nicht mehr Hand an mich legen und es wird Zeit, dass ich mich nach anderen Handlangern umsehe“ – „Die Handlanger“ (S.79). Wenn man das Leben genießen will, zieht Frau nach Berlin, so auch Felicitas Hoppe. Dort und anderswo lehrt sie die „Kunst des Schreibens“. Hätte sie sich nicht Lawrence Sterne, Jean Paul, James Joyce, Arno Schmidt zu Vorbildern genommen, wir hätten im Literaturkreis ihr besser folgen können, erwarten aber für unsere Mühe, dass sie eines Tages den Literaturnobelpreis erhält.
Nachtrag, so nebenbei:
Der Kampf um die Krone der deutschen Literatur: Prinzessin Dörte fordert Queen Felicitas, ein unzulässiger Vergleich.
Auch wenn viele Deutsche es nicht wahrhaben wollen, von den Engländern, insbesondere von Shakespeare, kann man noch so Manches lernen. Waren es in den untergegangenen Jahrhunderten Queen Elisabeth und die bemitleidenswerte Maria Stuart, so ist es heute der Kampf der H-Gebürtigen um die Krone der deutschen Literatur: Queen Felicitas Hoppe aus Hameln gegen Prinzessin Dörte Hansen aus Husum.
Und was folgt daraus?
Um unser Votum abgeben zu können, sollten wir demnächst „Altes Land“ von Dörte Hansen lesen!
Wolfgang Schwarz, im November 2015