Lutz Seiler, Kruso, Frankfurt 2014

Kruso - Intermezzo I

Unsere neueste Inbesitznahme im Literaturkreis war der mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichnete Entwicklungsroman „Kruso“ von Lutz Seiler. Die Mehrheit der Teilnehmer äußerte sich ähnlich enthusiastisch wie die Juroren des Buchpreises, einige allerdings wunderten sich ein wenig über das euphorische Urteil der Literaturexperten.

Die Hauptthemen des „Flüchtlingsromans“ sind Identitätsfindung (Suche nach sich selbst und Gemeinschaft), Verlust und Hoffnung im Persönlichen wie im Politischen. Stofflich beschreibt Seiler die Situation von „Gestrandeten/Suchenden“ auf der Insel „Hiddensee“ im Jahr des Zusammenbruches des pseudosozialistischen Systems der DDR. Der Autor sieht den Schwerpunkt in den zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Außenseitergemeinschaft und ihren Zerfall aufgrund massiver politischer Veränderungen. Dieser Haupterzählstrang weist durchaus autobiographische Züge auf und verrät genauere Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse. In den beiden Hauptfiguren Kruso und Edgar (Ed) finden sich so auch Lebenserfahrungen des Autors wieder. Ergänzt wird der lebensgeschichtliche Hintergrund durch die Montage der Gedanken- und Lebenswelt des bedeutenden Vertreters der modernen Lyrik, Georg Trakl. Hinzu kommen noch aufwendige, aber letztlich kaum ertragreiche Recherchen des Autors zum Schicksal vermisster Bootsflüchtlinge aus der Epoche der DDR.

 

Der autobiographische Hintergrund

Lutz Seiler gehört nicht zu den Autoren, die das eigene Leben in den Mittelpunkt ihrer literarischen Betrachtungen stellen.
Der 1963 geborene Schriftsteller ist offensichtlich auch ein praktisch veranlagter Mensch, der in seinen Jugendjahren, wie in Zeiten des sozialistischen Realismus nicht unüblich, eine Maurer- und Zimmererlehre durchlief. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass er 1989 als Saisonkraft auf Hiddensee eingestellt wurde. Die Figur Ed(gar), die zweite Hauptfigur neben Kruso, zeigt praktisches und konstruktives Geschick, das alle Kollegen/innen überzeugen kann. Zu Beginn des Romans tritt Ed als Akademiker auf, der in Halle Germanistik und Literaturwissenschaft studiert. Alle diese Tätigkeiten entsprechen der autobiographischen Realität des Autors. Für eine angestrebte Promotion setzt sich der „DDR-Geschädigte“ mit moderner Lyrik, insbesondere mit Georg Trakl auseinander. Auch Lutz Seilers erste Veröffentlichungen waren experimentelle Lyriksammlungen. Seine Jugenderinnerungen beschreibt er z.B. in „pech & blende“ (Frankfurt 2015, S. 41f) Dort nimmt er den Tischdienst als FDJ-ler aufs Korn. Ähnlich hätte es auch auf Hiddensee beim Klausner ablaufen können:

„ … morgens das gleiche, der schrift

folgende scharren der ärmel

über den bänken & mittags

das schlagwerk der löffel, wir hatten

den tischdienst, den milchdienst, den druck

einer leerkraft in den augen gelee

in den ohren bis

sie verstummte

die schwerkraft verstummte

in unseren mützen

das waren die schmerzen"

Ed gewinnt die innige Freundschaft von Kruso, bezeichnender Weise durch eine Rezitation eines Trakl-Gedichtes auf einem feucht-fröhlichem Gruppenfest der „Klausnergemeinde“, den sog. Schiffbrüchigen (Kruso S. 129ff). Wie weit die im Roman beschriebene Lebenskrise auch den durchlittenen Kummer des Autors Lutz Seiler widerspiegelt, vermag ich allerdings nicht zu sagen: „Ed begriff, dass man das eigene Leben verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, anderseits gegen sich selbst und die Lust aufzugeben“ (S.90). Ed musste den Verlust seiner großen Liebe “G“, die tödlich verunglückte, verarbeiten. Ob sich hinter den Pseudonym „G“ eine reale traumatische Erfahrung verbirgt, entzieht sich unserer Kenntnis. Doch immerhin setzt der Autor ja Trakls „Sonja“ und Eds „G“ gleich (S.214) und sie vertiefen zudem die Leidensfreundschaft von Ed und Kruso. Auch der autobiographischen Epilog, die Suche nach der wahrscheinlich ertrunkenen Kruso-Schwester „Sonja“, legt den Verdacht nahe, dass Lutz Seiler Gemeinsamkeiten von Trakl, Kruso, Ed und vielleicht auch ihm selbst zum Ausdruck bringen wollte. Während Ed wohl viele Lebenserfahrungen mit Lutz Seiler teilt, ist Kruso wohl weitgehend eine fiktive Figur, der vielleicht der Punkrocker Aljoscha Rompe als Vorbild diente. Dafür spricht, dass dieser Hiddenseer war und sein Vater ein bekannter Wissenschaftler, der im Roman als Rommstedt aufersteht. Als sein Hauptanliegen konstruiert Seiler aber die Parallelen zu Georg Trakl und seiner Schwester Grete.

Die Leitfigur Trakl

Mehrfach wird im Roman deutlich, dass der Autor die Ähnlichkeit von Kruso und dem genial – irrsinnigen Dichter Trakl suggerieren will. Ausdrücklich formuliert er dies, als der schwerkranke, verwirrte Kruso auf einem sowjetischen Panzerkreuzer von der Insel abtransportiert werden soll. Ein letztes Mal schaut Ed dem Freund ins Gesicht:

„ins Gesicht mit Friedhofsblick, es war das Gesicht Georg Trakls“ (S.420).

Wie schon erwähnt, verschmilzt der Autor die Paarbeziehungen Kruso – Sonja – Trakl - Sonja/Grete – Ed – „G“ miteinander (S.214).

Wie der Psychopath und drogenabhängige Dichter leidet auch Ed an Angstneurosen (Fallsucht u.a.). Gleichzeitig projektiert Edgar auch Charakter und Verhaltensweisen von „G“ in Krusos Schwester Sonja. Die beiden Figuren (früh verstorben und heftig vermisst) werden begehrt wie Trakls Schwester als das lyrische Alter-Ego Sonja/Afa.

Grete war für den empfindsamen und ausgegrenzten Jüngling Mutterersatz und Geliebte. Sie ist lebenslustig, geradezu versessen darauf, alles auszuprobieren, was erlaubt und verboten ist. Trakl ist begeistert von Wagners Walküre (Wälsungenblut) und wohl auch Grete schätzt als talentierte Klavierspielerin diese Opern- und Sagenfiguren. Grete sucht allerdings auch Beziehungen zu anderen Männern, heiratet, wird wie Georg alkohol- und drogenabhängig. Sie gerät schnell in eine Sackgasse, weiß keinen Ausweg und verübt mit 25 Jahren Suizid (Vgl. Otto Basil, Trakl, Reinbeck 1965, S.70ff). Der reale Trakl und der fiktive Kruso können beide die Trennung von den geliebten Schwestern nicht verkraften. So zumindest die Botschaft des Autors Lutz Seiler.

Trakl hat die problematische Beziehung zu seiner Schwester mehrfach poetisch wiedergegeben:

Sonja

Abend kehrt in alten Gärten

Sonja`s Leben, blaue Stille

Wilder Vögel Wanderfahrten

Kahler Baum in Herbst und Stille

 

Wo die blauen Glocken läuten;

Sonja Schritt und sanfte Stille

Sterbend Tier grüßt im Entgleiten

Kahler Baum in Herbst und Stille

Aus: Georg Trakl, Das dichterische Werk, München 1972, S.60

Afa, 1.Fassung

Ein Kind mit braunem Haar. Schwärzliche Flammen.

Ein roter Mund, ein rätselvolles Siegel.

Am offenen Fenster welken still die Stunden

Des Liebenden. Der Wolken kühne Fahrten

Sind mit dem Pfad der Einsamen verbunden.

Ein Blick sinkt silbern in den braunen Garten ( S.211)

 

Blutschuld

Es dräut die Nacht am Lager unsrer Küsse

Es flüstert: Wer nimmt von euch die Schuld?

Noch bebend von verruchter Wollust Süße

Wir beten: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld! ( S.148)

Depression, Schuldgefühle und Verlangen, Trakl arbeitet es poetisch auf. Kruso, sicherlich nicht so schuldbeladen, versucht eine Gemeinschaft der Gestrandeten, Enttäuschten, doch Sehnsuchtsvollen zu gründen, eine “Klausner-Bruder-Schwesternschaft“. Mit der sich anbahnenden deutschen Einheit löst sie sich immer schneller auf und nur einer bleibt, Ed: „Zwölf Stühle – ein Mann Besatzung. Ein Raum voller Abwesenheit“ (Kruso S.426). Nun ist auch noch der Sektenführer Kruso verschwunden und erlebt noch einmal in seinen Halluzinationen den auferstandenen Fuchs. Doch die Erlösungsphantasien, ob christlich oder sozialistisch sind verflogen. Ed will es nicht wahrhaben: „Die Toten waren auferstanden … keiner war verloren. Keiner blieb ewig vermisst. – „Ahoi Sonja! Alo – ahé, kleine „G“!“ (S.433).

Ed gibt auch später nicht auf, forscht nach den Ertrunkenen. Vor allem möchte er die Wasserleiche „Sonja“ in Dänemark finden, ohne Erfolg. Sonja (das Trakl–Pseudonym heißt eigentlich Valentina Krusowitsch)bleibt verschwunden, aber nicht vergessen. Sie bleibt als Andenken, als Hoffnung für weitere Bootsflüchtlinge. So bleiben dank Lutz Seilers Roman die Toten, die die Freiheit über die Ostsee suchten, in unserer Erinnerung.

Wolfgang Schwarz, 19.04.2016