Sand IX

George Sand, Lucrezia Floriani, Frankfurt 1985
(Eine späte Nachbetrachtung von Wolfgang Schwarz)

Die notdürftig autobiographisch versteckte Geschichte, 1847 veröffentlicht, gilt als ein Schlüsselroman im Werk von George Sand, spiegelt er doch in verdichteter Form das 9jährige Zusammenleben George Sands und Frederic Chopins wider.

Die Sand-Fans loben den Roman, weil er einerseits die fürsorgliche, mütterliche George eindrucksvoll darstellt und andererseits auch die widersprüchliche, neurotische Persönlichkeit des bedeutenden Komponisten und Pianisten minutiös dokumentiert. Die Chopin-Enthusiasten sehen dagegen das Werk als eine unzutreffende Verunglimpfung des musikalischen Genies und vermeintlichen Freigeistes.

George Sand las während der Niederschrift des Romans in ihrem Schloss in Nohant einzelne Passagen des entstehenden Werkes vor. Manche Herren empfanden diese z.T. von erlesener Boshaftigkeit und amüsierten sich trefflich. Chopin selbst war bei den Lesungen zwar ebenfalls anwesend, soll aber angeblich nicht mitbekommen haben, dass er selbst zweifelsfrei charakterisiert wurde, war doch von einem Fürsten Karol die Rede und nicht von einem Musiker. Die Chopin-Begeisterten sehen aber in dem angeblichen Nichtverstehen wiederum die moralische Größe des Komponisten und ein absichtliches Übergehen von Peinlichkeiten. Anstand geböte in peinlichen Situationen eben Schweigen!

 

Da schon in den „Anmerkungen“ zur Beziehung Sand – Chopin Stellung genommen wurde, konzentriere ich mich im Folgenden weitgehend auf literarische Aspekte.

1. Das Geheimnis der Produktivität und des Arbeitsstils der Schriftstellerin

Es ist für uns aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen, dass Sands Werk ca. 180 Bände umfasst, dass sie allein über 100 Romane geschrieben hat, obwohl sie doch beileibe keine Stubenhockerin gewesen ist.

Sicherlich gab es damals längst nicht so viele Ablenkungen wie heute, doch das erklärt natürlich nicht ihre ungeheure Produktivität. Nach der Lektüre einiger Romane lässt sich durchaus sagen, dass vieles wohl recht spontan entworfen wurde, aber trotzdem strukturiert und reflektiert erscheint. Die eigenen Erfahrungen und Beobachtungen haben ihr wohl sehr geholfen. Sie war sehr kreativ, begann einen Roman mit ungefähren Vorstellungen, folgte bei der Niederschrift plötzlichen Eingebungen, ohne eine klare Handlungsstruktur und die Aussageabsicht aus den Augen zu verlieren.

Im 1. Kapitel des Romans entwirft die Autorin eine Charakterstudie des jungen Fürsten und ordnet diese in einen ungefähren Lebenslauf ein. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zur Mutter (auch Chopin galt als „Muttersöhnchen“). Dann führt sie Karols Schul- und Jugendfreund Salvatore Albani ins Handlungsgeschehen ein und befasst sich mit der intensiven emotionalen Beziehung zwischen den Beiden. Gleichzeitig werden die Örtlichkeiten am Comer - und Iseo See, dem Ort der späteren Romanhandlung, beschrieben. Eine so kenntnisreiche und gut beobach-tende Schriftstellerin wie George Sand dürfte in der Lage gewesen sein, die ersten 3 Kapitel in 1 – 2 Nachtschichten zu verfassen. Nach dem 3.Kapitel stellt sie die Titelfigur dar.

Da dies zum großen Teil eine Selbstdarstellung ist, sind schnell die ersten 6 Kapitel verfasst (In der Insel-Ausgabe befinden wir uns auf S.56). Danach werden die drei Hauptfiguren zusammengeführt. Es folgt ein Wechsel von der Prosa in die Dialogstruktur, so dass fast der Eindruck entsteht, es handle sich um ein Schauspiel. Dann folgen wieder Charakterstudien, die einer Autorin mit so einem großen Bekanntenkreis sicherlich recht schnell von der Hand gingen. Auf aufwendige Recherchen konnte sie also verzichten, schließlich hatte sie einige Jahre mit Chopin (Fürst Karol) zusammengelebt und manches über dessen Familie und Freunde erfahren, dazu werden zahlreiche eigene Erlebnisse verarbeitet und die beste Freundin Marie

Dorval hat ebenfalls viel zu berichten. Meine Vermutung ist also, dass George mit der Hälfte des ersten Entwurfs bereits nach einer Woche fertig sein könnte. Im 2.Teil folgt sie der Entwicklung ihrer Beziehung zu Chopin, lässt dabei auch ausführlich die Geschichte seiner ersten und wohl auch einzigen Liebe zu seiner Verlobten Maria Wodzinska einfließen. Salvatore Albani ist zudem eine Wiederauferstehung von Chopins vielleicht einziger wahren Liebe neben der Mutter, nämlich der Schul- und Jugendfreund Titus Woyciechowski, dem er einige seiner Jugendwerke gewidmet hatte (George Sand ist übrigens nie mit einer Widmung geadelt worden!). Für andere Figuren müssen z. Alfred de Musset (Teddo Soavi), ihr Ex Casimir und viele andere aus ihrem Bekanntenkreis herhalten. Ihr Fundus an Erinnerungen von interessanten

Persönlichkeiten ist so groß, dass in Ergänzung mit ihrer Kreativität für diesen Roman nur wenige Wochen intensiver Schreibarbeit benötigt wurden. Das würde auch die z.T. etwas sprunghaften Handlungsverläufe erklären. Spontaneität und permanenter Ideenfluss, zudem ein ungeheurer Fleiß und große Disziplin stehen hinter ihrer enormen Produktivität. Allerdings kann man sich aufgrund dieser Eigenschaften kaum vorstellen, dass sie wie viele ihrer Geliebten auch eine formbewusste Lyrikerin hätte werden können.

2. Autobiographische Konkretisierungen

Figurenkonstellation und Aussageabsichten des Romans lassen sich unschwer aus den Lebensgeschichten und Charakteren der biographischen Vorbilder ableiten.

Lucrezia lässt eindeutig George Sand Urteile über Chopin, ihre Enttäuschungen und ihr Wunsch-Ich „Marie Dorval“ erkennen. Chopin selbst, wohl etwas überzeichnet und auch ein Revancheopfer, heißt eben nur Fürst Karol von Rosvald. Hinter der Fürstin Lucie, die früh verstorbene Verlobte des Fürsten, verbirgt sich Chopins Jugendliebe Marie Wodzinski. In einem kurzen Auftritt erscheint Alfred de Musset als Teddo Soavi. Erzähltechnisch am interessantesten dürfte Salvatore Albani sein, der als eine fiktive Fortschreibung von Titus Woyciiechowski erscheint.

Bei den 3 Hauptfiguren übernimmt Lucrezia die Opferrolle. Sie ist bereit, für den Egomanen Karol alles aufzugeben, was ihr im Leben sonst noch Freude bedeuten könnte. Eine solche Selbststilisierung scheint nicht ganz unbegründet, wenn man George Sands soziales Engagement betrachtet. Opfer bedeutet für sie auch Ausdruck von Freiheit. Das schließt aber die Unterordnung in einer institutionellen Ehe aus.

Opferbereitschaft ist bei George Ausdruck einer freiwilligen Unterwerfung, aber nicht eine den gesellschaftlichen Konventionen geschuldete. Dieser Grundzug spiegelt ihre Mutter- und Schwesterliebe wider, die ihr wichtiger ist als erfüllendes erotisches Erleben. Chopins fehlende erotische Neigungen, seine frömmelnd stilisierte Keuschheit empfand die Autorin demütigend und abstoßend, wie sie es in einem Brief an Graf Albert Grzymala zum Ausdruck bringt: „Die Art der Betrachtung der äußersten Liebesvereinigung hat mich immer abgestoßen … Kann es denn jemals Liebe geben ohne einen einzigen Kuss der Liebe, ohne Wollust?“ ( Brief Ende Mai 1838, in: Gisela Schlientz, George Sand, Frankfurt 1987, S. 112).

Der Psychopath Karol profitiert von dieser Haltung und die Autorin lässt den Narzissten Karol die liebevolle Lucrezia überleben. Im wirklichen Leben lebte die opferbereite George erheblich länger als das Musikgenie und ihre Liebe galt wohl auch eher dem Genie als der Person Chopin. Weit überhöht wird natürlich Chopins Jugendfreund Titus dargestellt. Die Autorin unterstellt ihrem Partner sicherlich eine homoerotische Veranlagung und findet so auch eine Erklärung für das geringe sexuelle Verlangen, das sie in ihrer Beziehung zu dem Jahrhundertkomponisten wohl auch beklagt hat. Paradoxerweise entscheidet sie sich im Roman nicht für Salvatore, sondern für Karol. Aus dem wirklichen Leben der beiden Künstler wissen wir, dass Chopin krankhaft eifersüchtig war, und das wohl auch nicht ganz begründet. Aber immerhin wissen wir aus der Zeit der Beziehung Sand – Chopin auch, dass zahlreiche Verehrer (z.B. Eugène de Mirecourt, Charles Poncy, Auguste Clésinger – später abgetreten an die Tochter Solange -, Eugène Lambert) von der vielumworbenen Schriftstellerin abgewiesen wurden.

Sicherlich war es ein literarisch raffinierter Schachzug, dass Sand ausgerechnet die Jugendliebe Chopins, den Titus/ Salvatore im Roman“Lucrezia Floriani“, zu ihrem eigenen Geliebten erhoben hat und auf diesen wunderbaren Mann zugunsten eines bösartigen Psychopathen verzichtet hat. Ich denke, die Vielgeliebte wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Liebe der Frauen zu ihren Männern eine ganz andere moralische Qualität besitzt als die in homoerotischen Männerlieben praktizierte.

Ob Chopin diese Lehre begriffen hat, entzieht sich natürlich unserer Kenntnis!

Wolfgang Schwarz, 15.6.2016